Als die Vögel verschwinden
Als die Sonne untergegangen war, trafen sich die Vögel auf einer Lichtung mitten in einem großen Wald. Seit Tagen hatten sie sich untereinander verständigt und diesen Ort für ihren geheimen Treffpunkt bestimmt. Die Leitung sollte der starke Adler übernehmen. Als die Sonne nicht mehr zu sehen war, trug jeder seine Sorgen vor und die anderen Vögel hörten gespannt zu. So begann jeder nach und nach zu erzählen.
„Die vielen Glasfenster der Menschen sind für uns Todesfallen, wir fliegen umher und weil wir die riesigen Scheiben nicht sehen, brechen wir uns das Genick“, klagten die Amseln. Die Feldlerchen jammerten: „Wir finden auf den Feldern kaum mehr Hecken und Büsche, um unsere Nester zu bauen.“„Es gibt nur noch wenige Bauernhöfe mit offenen Stallfenstern“, zwitscherten die Mehlschwalben, „wo sollen wir matschigen Lehm finden und unsere Deckennester bauen?“
Auch die Turmfalken krächzten ihr Klagelied: „Die alten Ruinen und Mauerreste sind verschwunden, wir finden kein geschütztes Zuhause mehr für unsere Jungen.“ „Die Menschen sind am Fluss viel zu laut und laufen überall am Ufer entlang“, beschwerten sich die Eisvögel, „wir können nicht mehr in Ruhe unsere Fische fangen.“ Und die Finken trauerten: „Wenn wir im Herbst in den Süden fliegen, werden viele von uns von Vogeljägern gejagt, gefangen und dann gebraten. Die Menschen können so gemein sein!“ Zuletzt klapperten die großen, weißen Störche: „Wo gibt es noch reiche Moore mit vielen Fröschen, unserer Lieblingsspeise?“
So klagten alle Vögel ihr Leid. Als der letzte Vogel seine Geschichte erzählt hatte, sprach der starke Adler: „Freunde, ich habe eure Sorgen gehört. Lasst mir etwas Zeit, ich muss gut überlegen. Die weise Eule soll mir helfen, nachzudenken. Kommt morgen Abend bei Sonnenuntergang wieder hierher zurück. Dann werden wir weiter sehen.“
Als am folgenden Tag alle Vögel versammelt waren, gaben der mächtige Adler und die weise Eule ihren Entschluss bekannt. „Freunde, wir werden die Menschen verlassen!“, rief der mächtige Adler. „Sie werden dann sehen, was sie davon haben, unseren Lebensraum zu zerstören,“ fügte die weise Eule hinzu. Alle Vögel waren mit der Entscheidung einverstanden. Danach zwitscherten und piepsten sie alle durcheinander.
Am nächsten Morgen trafen sich alle Vögel wieder auf der Lichtung im Wald. „Wir werden zur großen Insel im Meer fliegen, folgt mir!“, rief der Adler entschlossen. „Und dort werden wir endlich in Frieden leben!“, krächzte die weise Eule.
Als der letzte Vogel die Dörfer und Städte, die Wiesen und Parks, die Berge und Wälder, die Felder und Täler, die Gärten und Schulhöfe verlassen hatte, wurde es ganz still im Land – totenstill. Kein einziger Vogel war mehr zu hören.
Da wurden die Menschen sehr traurig. Niemand ging mehr durch den Wald spazieren, kein Kind lief mehr in den Garten und die Alten blieben nicht mehr lange auf der Parkbank sitzen.
Auch am Abend saß niemand mehr vor der Tür und lauschte. Und wenn sich die Menschen trafen, trugen sie finstere Gesichter mit sich herum und beklagten ihr Leid. Die Kinder hatten keine Lust mehr, ihren Schulweg zu gehen und in den Tälern ging niemand mehr spazieren.
„Wir müssen die Vögel zurück bitten!“, beklagten sich die Menschen, „ihr Gesang fehlt uns.“ Aber niemand sah nur einen einzigen Vogel in seinem Garten. Auch in den Bäumen auf dem Schulhof sang kein Vogel sein Lied. Da begannen die Menschen darüber nachzudenken, was sie für die Vögel tun können, damit sie sich wohl fühlen und vielleicht doch wieder zurückkommen. Sie ließen die Feldhecken stehen und pflanzen große Sonnenblumen in ihre Gärten. Manche klebten große, schwarze Papiervögel an die riesigen Fensterscheiben und die Kinder bauten in der Schule viele verschiedene Vogelkästen. Einige Wanderwege wurden für die Men-schen gesperrt und zu Vogelschutzgebieten erklärt. In den Zeitungen protestierten die Menschen gegen die Vögelmörder, die Jagd auf die Zugvögel machten. Darauf- hin wurden schließlich die viele gemeinen Vogelfallen abgebaut. Jeder machte sich Gedanken, was er selbst tun könnte, damit wieder Vögel vor seiner Türe sangen. Aber nichts geschah. Kein Vogel war zu hören und zu sehen.
Auf der Vogelinsel ging es allen Vögeln zunächst sehr gut. Jeder hatte genug zu picken. Doch nach einigen Tagen klagte ein kleiner Körnerfresser: „Ich finde keine Körner mehr!“ Da bemerkten die anderen Vögel, wie Recht er hatte. Früher bei den Menschen fanden sie genug Körner. Sie lagen auf den Kornfeldern und auf den Höfen, sie hingen in den Sonnenblumen oder waren auf den Marktplätzen verstreut. Der mutige, kleine Vogel sprach zu seinen Eltern: „Der Winter wird bald kommen. Wie soll es mit uns weiter gehen? Ich werde zu den Menschen fliegen und sehen, ob ich dort noch Körner finde. Der Weg ist ja nicht weit.“ Die Eltern konnten ihn nicht davon abbringen und so flog er zurück zu den Menschen.
Als er die riesigen, gelben Blumen in den Gärten sah, freute er sich und fraß sich den Bauch voll mit Sonnenblumenkernen. In seiner Eile wäre er beinahe gegen eine große Fensterscheibe geflogen. Doch da bemerkte er in letzter Minute den schwarzen Papiervogel. Voller Freude kehrte er eilig zur Vogelinsel zurück und erzählte von den Menschen. Die Vögel wollten ihren Ohren nicht trauen. Alle jubilierten und tirilierten, sie pfiffen und zwitscherten aufgeregt durcheinander. Da sprach der mächtige Adler: „Meine Freunde, mir scheint, die Menschen haben dazu gelernt, lasst uns zurückkehren, es wird nicht zu unserem Schaden sein. „Danke Kleiner!“, krächzte die weise Eule, „wenn du nicht gewesen wärst!“
Da kehrten die großen und kleinen Vögel zurück zu den Menschen. Sie saßen wieder in den Wäldern und Feldern, in den Gärten und Parks, auf den Marktplätzen und in den Schulhofbäumen und jeder sang, so gut er konnte.
Als die Menschen die ersten Vögel in ihren Gärten hörten, leuchteten ihre Augen, sie freuten sich und liefen in die Nachbarhäuser, um gleich von der Neuigkeit zu erzählen. Nun gingen die Kinder am Morgen wieder frohgelaunt aus den Häusern und in der Schule konnten sie wieder mit großer Freude ihre Vogellieder singen.
Als der Tag der Rückkehr zu Ende gehen wollte, trafen sich der mächtige Adler und die weise Eule auf der Lichtung im Wald. „Ich denke Eule“, sprach der Adler, „das ist noch einmal gut gegangen.“ „Du hast recht, stolzer Adler,“ krächzte die weise Eule, „aber nur, weil ein Kleiner den ersten Schritt gemacht hat!“
© Hans-Werner Kulinna